Qualität eines tatsächlich wirksamen Rechtsmittels erreichen, ohne andererseits dem missbräuchlichen Einsatz Tür und Tor zu öffnen

Stellen Sie sich vor, Sie brechen sich bei einem Unfall auf dem Weg ins Büro einen Arm und das Nasenbein. Es vergehen neun Jahre, bis rechtskräftig über einen Anspruch auf Schadenersatz gegen die Haftpflichtversicherung des Unfallgegners entschieden wurde. Es verrinnen weitere 15 Jahre, in denen es der Justiz in den verschiedenen Instanzen nicht gelingen will, über die Höhe des Schadenersatzes abschließend zu entscheiden.
 
Dieser und andere Sachverhalte lagen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in den vergangenen Jahrzehnten aus den verschiedensten Mitgliedstaaten vor. Dies nahmen die Straßburger Richter bereits im Jahr 2000 zum Anlass, ihre Rechtsprechung dahin gehend zu ändern, die Europäische Menschenrechtskonvention als verletzt anzusehen, wenn gerichtliche Verfahren eine unangemessene Dauer aufweisen und den Betroffenen kein wirksames Rechtsmittel dagegen zur Verfügung gestellt wird.
 
Dem Straßburger Gerichtshof lag im September letzten Jahres ein Fall aus der Bundesrepublik zur Entscheidung vor, in dem der Beschwerdeführer nach 13 Jahren auf eine rechtskräftige Entscheidung zur Neuerteilung eines Waffenscheins warten musste. Wenn man sich die Umstände des Falls vor Augen führt, aufgrund derer der EGMR nun die Bundesrepublik binnen Jahresfrist zur Schaffung eines wirksamen Rechtsmittels auffordert, so wird deutlich, dass es hier nicht allein um das zentrale Verfahrensgrundrecht der Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes geht: Der Beschwerdeführer betreibt ein Personenschutzunternehmen. Es fällt daher nicht schwer, eine Betroffenheit seines Grundrechts auf freie Berufsausübung nach Art. 12 GG festzustellen.
 
Auch andere Freiheitsrechte stehen hier im Fokus: In einem anderen prominenten Fall, der im Herbst 2000 entschieden wurde, verbrachte der Beschwerdeführer wesentliche Teile des als überlang empfundenen Verfahrens in Untersuchungshaft. Insgesamt sind in allen Fällen also ganz wesentliche Grundrechte betroffen. Deshalb verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von der Bundesrepublik, dass wir die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für einen effektiven Rechtsschutz schaffen. Neben Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes verpflichtet uns Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention dazu.
 
Auf der anderen Seite steht mit der Gestaltung und Leitung des Gerichtsverfahrens auch die richterliche Unabhängigkeit auf dem Spiel. Es sind damit unterschiedliche grundgesetzlich geschützte Rechte und Grundsätze betroffen, die in praktische Konkordanz gebracht werden müssen.
 
In verfahrensrechtlicher Hinsicht gilt: Bei der Ausgestaltung des Rechtsmittels müssen wir einerseits die Qualität eines tatsächlich wirksamen Rechtsmittels erreichen, ohne andererseits dem missbräuchlichen Einsatz Tür und Tor zu öffnen. Dabei ist mir die Missbrauchsgefahr, die ein solch umfassendes, die Gerichtsbarkeiten übergreifendes Rechtsmittel mit sich bringt, bewusst. Die Verzögerungsrüge mit anschließender Entschädigungsklage könnte schnell zum Massenphänomen werden. Schließlich könnten Rechtsanwälte allein aus Haftungsgesichtspunkten regelmäßig veranlasst sein, die Rüge gewissermaßen „pro forma“ zu erheben, um für spätere Entschädigungsklagen nicht präkludiert zu sein.
 
Natürlich muss das Rechtsmittel auch so ausgestaltet sein, dass es sich nicht selbst negativ auf die Dauer des Ausgangsverfahrens auswirkt. Deshalb ist es richtig, dass das Gericht nicht notwendig zu einer förmlichen und begründeten Entscheidung verpflichtet ist. Hier sollten wir aber meines Erachtens prüfen, die Eingabe, mit der die Verzögerung geltend gemacht wird, um ein Begründungserfordernis, wie es beispielsweise vom Deutschen Richterbund gefordert wird, zu ergänzen. Nur auf diese Weise kann den Verfahrensbeteiligten konstruktiv angezeigt werden, woran die gewünschte Fortsetzung scheitert.
 
Gerade aus der Richterschaft höre ich, dass Verfahren oftmals daran kranken, dass Parteien, Sachverständige und das Gericht sich nicht hinreichend über den Fortgang des Verfahrens und etwaige Hindernisse und Hürden austauschen. Ihre Erfahrung ist, dass man oftmals über lange Zeiträume hinweg zwar die Dauer des Verfahrens kritisiert, ohne sich gemeinsam über die Gründe zu verständigen. Dem Mangel der unzureichenden Kommunikation könnte durch eine konkrete Begründung zumindest entgegengewirkt werden. Wenn sich eine lange Dauer abzeichnet, müssen die Beteiligten künftig verbessert nach Möglichkeiten suchen, wie man das Verfahren beschleunigen kann. Gleichermaßen müssen die Gerichte auch in die Lage versetzt werden, deutlich zu machen, warum im speziellen Fall die Dauer eben doch noch sachgerecht ist.
 
Zudem soll das Rechtsmittel nicht dazu führen, dass die Gerichte in einer Art vorauseilender Anpassung die Gründlichkeit zugunsten der Verfahrensbeschleunigung hintenanstellen. In den allermeisten Fällen entspricht die gerichtliche Gründlichkeit dem Interesse der Parteien.
 
In materieller Hinsicht müssen wir noch im Einzelnen diskutieren, welche Verzögerungsgründe zur Entschädigung führen sollen. Klar ist, dass es dabei nicht auf das Verschulden des Gerichts ankommen soll. Deshalb sollten wir auch den Begriff der Rüge noch einmal überdenken, denn damit ist zumeist assoziiert, dass ein Verschuldungsvorwurf gegenüber dem Gericht erhoben wird. Wenn man sich die Gründe für Verfahrensverzögerungen anschaut, dann ist es in den seltensten Fällen der Spruchkörper des befassten Gerichts selbst, der eine überlange Verfahrensdauer verursacht. Auch ist es – zumindest nicht für die Fälle, über die wir heute reden – nicht etwa eine unzureichende Personalausstattung von Gerichten und Staatsanwaltschaften, die zu Verfahrenslängen von 10, 15 Jahren führt. Die dünne Personaldecke verlängert die Verfahren in der Praxis – zweifellos. Aber dabei geht es um Verzögerungen um einige Monate oder darüber, nicht jedoch um Verzögerungen von acht, neun oder mehr Jahren.
 
Ein gängiges Phänomen ist, so wird es aus der Praxis immer wieder berichtet, dass die Einholung von Sachverständigengutachten sich als wahre Verfahrensbremse erweist. Dass die Zahl der verfügbaren Gutachter, so beispielweise in komplizierten baurechtlichen Verfahren, sehr gering ist, gehört zu der Vielzahl von Gründen, weshalb sich gerichtliche Verfahren in die Länge ziehen. Das sehen die Parteien in der Regel aber auch ein, sie haben selbst ein Interesse daran, dass der Sachverständige sich die nötige Zeit zur Begutachtung nimmt. Unter welchen Voraussetzungen es dann einen Entschädigungsanspruch geben soll, müssen wir noch diskutieren.
 
Wir müssen uns angesichts der im Gesetzentwurf angelegten Entschädigungslösung auch mit der Frage auseinandersetzen, ob der von der Großen Kammer des EGMR im Urteil vom Sommer 2006 erwogene präventive Ansatz zur Verhinderung von überlangen Verfahrensdauern ein gangbarer Weg wäre. Ob sich die teilweise vorgeschlagene gesetzliche Fixierung einer Untätigkeitsbeschwerde umsetzen lässt, ohne sich selbst verzögernd auf das Verfahren auszuwirken, wird zu prüfen sein. Auch die im Entwurf unbegrenzte Höhe des Ersatzes für materielle Schäden müssen wir diskutieren.
 
Ich will an dieser Stelle noch auf die strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingehen, deren überlangem Verlauf künftig ebenfalls mit einer Verzögerungsrüge begegnet werden soll. Im Strafverfahren sind kompensatorische Ansätze, beispielsweise in Form eines Straf- oder Vollstreckungsabschlags, bereits gerichtliche Praxis. Hier sind die Maßgaben der Art. 20 Abs. 3 GG und des Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention bereits richterrechtlich umgesetzt worden. Vor allem in den Fällen, bei denen die Verfahren durch Einstellung oder Freispruch beendet werden, sieht der Europäische Gerichtshof erheblichen Handlungsbedarf beim Gesetzgeber. Auch an dieser Stelle soll nun die Verzögerungsrüge greifen und all die Fälle abdecken, in denen verzögerungsbedingte Nachteile nicht bereits durch Strafgericht oder Staatsanwaltschaft ausgeglichen wurden. Ob wir uns als Gesetzgeber nun tatsächlich darauf verlassen, dass die richterrechtlich entwickelten Entschädigungsformen weiter praktiziert werden und die gesetzliche Kompensation lediglich subsidiär greift, ist ebenso zu diskutieren wie die These, nach der das richterliche Strafvollstreckungsmodell mit Inkrafttreten dieses Gesetzes entbehrlich und damit nicht mehr angewandt werde. Gleiches gilt für die Frage, ob wir mit der Gewährung einer Rügemöglichkeit für alle Verfahrensbeteiligten nicht über das Ziel hinausschießen und ohne Not weiter gehen, als es der EGMR von uns verlangt.
 
Eines können wir trotz der im Einzelfall überlangen Verfahren in die Ausschussberatungen mitnehmen: Der Rechtsschutz am Justizstandort Deutschland funktioniert vorbildlich. Dies ist nicht zuletzt im jährlich von der Weltbank herausgegebenen „Doing Business“-Bericht auch für dieses Jahr deutlich gemacht worden: Gerade im Hinblick auf die Rechtspflege bestehen danach gute Investitionsbedingungen in der Bundesrepublik. Wir reden hier lediglich über Einzelfälle, bei denen die Umstände des Verfahrens für die Beteiligten wirklich extrem und nicht hinzunehmen sind.
 
Trotzdem ist es gut, dass die Gesetzesinitiative anscheinend den Willen ausgelöst hat, auch mäßige Verzögerungen im Alltag der Gerichte noch einmal zu überprüfen. So haben, wie zu hören war, einige Verwaltungen bereits die Ankündigung des Gesetzentwurfs zum Anlass genommen, neben den üblichen „Überlängeanzeigen“ in den Gerichtsbarkeiten auch Erhebungen zu den einzelnen Verfahrenslängen durchführen. Hier entsteht auch in einigen Landesjustizverwaltungen ein Bewusstsein, das ich angesichts der bis-herigen Verfahrenslängen nur begrüßen kann.
 
Abschließend möchte ich noch einen weiteren Gedanken in die Beratungen mitnehmen: Wir sollten prüfen, wie man beim Entschädigungsverfahren den Effekt ausschließt, dass allein Richter über richterliches Handeln des Ausgangsverfahrens entscheiden. Ich gehe davon aus, dass nur in wenigen Fällen das Ergebnis heißen wird, dass ein Verfahren tatsächlich als überlang zu bewerten ist und einen Entschädigungsanspruch auslöst. In den vielen Fällen, in denen Richter entscheiden, dass die Kollegen alles richtig gemacht haben, dass ein langes Gerichtsverfahren trotzdem nur als angemessen und eben nicht als überlang bewertet wird, wird das nicht immer die gewünschte Akzeptanz finden. Deshalb wäre es schön, an dieser Stelle nicht ausschließlich professionelle Richter mit der Entscheidung zu betrauen, sondern auch die Bewertung durch Laien einfließen zu lassen. In den Gerichtsbarkeiten, in denen Laienrichter im Spruchkörper integriert sind, ist dieses bürgerschaftliche Element bereits vorgesehen. Wir sollten prüfen, ob und wie man dies darüber hinaus auf die anderen jeweils zuständigen Gerichte übertragen kann.

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